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lebendig, und er zweifelte nicht einen Augenblick, daß jener Mensch die Tat begangen, den er so
manchmal gesprochen, der ihm so wert geworden war.
Da er durch die Linden mußte, um nach der Schenke zu kommen, wo sie den Körper hingelegt
hatten, entsetzt' er sich vor dem sonst so geliebten Platze. Jene Schwelle, worauf die
Nachbarskinder so oft gespielt hatten, war mit Blut besudelt. Liebe und Treue, die schönsten
menschlichen Empfindungen, hatten sich in Gewalt und Mord verwandelt. Die starken Bäume
standen ohne Laub und bereift, die schönen Hecken, die sich über die niedrige Kirchhofmauer
wölbten, waren entblättert, und die Grabsteine sahen mit Schnee bedeckt durch die Lücken hervor.
Als er sich der Schenke näherte, vor welcher das ganze Dorf versammelt war, entstand auf
einmal ein Geschrei. Man erblickte von fern einen Trupp bewaffneter Männer, und ein jeder rief, daß
man den Täter herbeiführe. Werther sah hin und blieb nicht lange zweifelhaft. Ja, es war der Knecht,
der jene Witwe so sehr liebte, den er vor einiger Zeit mit dem stillen Grimme, mit der heimlichen
Verzweiflung umhergehend angetroffen hatte.
"Was hast du begangen, Unglücklicher!" rief Werther aus, indem er auf den Gefangenen losging.--
Dieser sah ihn still an, schwieg und versetzte endlich ganz gelassen: "keiner wird sie haben, sie
wird keinen haben."--Man brachte den Gefangnen in die Schenke, und Werther eilte fort.
Durch die entsetzliche, gewaltige Berührung war alles, was in seinem Wesen lag,
durcheinandergeschüttelt worden. Aus seiner Trauer, seinem Mißmut, seiner gleichgültigen
Hingegebenheit wurde er auf einen Augenblick herausgerissen; unüberwindlich bemächtigte sich die
Teilnehmung seiner, und es ergriff ihn eine unsägliche Begierde, den Menschen zu retten. Er fühlte
ihn so unglücklich, er fand ihn als Verbrecher selbst so schuldlos, er setzte sich so tief in seine
Lage, daß er gewiß glaubte, auch andere davon zu überzeugen. Schon wünschte er für ihn sprechen zu
können, schon drängte sich der lebhafteste Vortrag nach seinen Lippen, er eilte nach dem
Jagdhause und konnte sich unterwegs nicht enthalten, alles das, was er dem Amtmann vorstellen
wollte, schon halblaut auszusprechen.
Als er in die Stube trat, fand er Alberten gegenwärtig, dies verstimmte ihn einen Augenblick; doch
faßte er sich bald wieder und trug dem Amtmann feurig seine Gesinnungen vor. Dieser schüttelte
einigemal den Kopf, und obgleich Werther mit der größten Lebhaftigkeit, Leidenschaft und Wahrheit
alles vorbrachte, was ein Mensch zur Entschuldigung eines Menschen sagen kann, so war doch,
wie sich's leicht denken läßt, der Amtmann dadurch nicht gerührt. Er ließ vielmehr unsern Freund nicht
ausreden, widersprach ihm eifrig und tadelte ihn, daß er einen Meuchelmörder in Schutz nehme; er
zeigte ihm, daß auf diese Weise jedes Gesetz aufgehoben, alle Sicherheit des Staats zugrunde
gerichtet werde; auch setzte er hinzu, daß er in einer solchen Sache nichts tun könne, ohne sich die
größte Verantwortung aufzuladen, es müsse alles in der Ordnung, in dem vorgeschriebenen Gang
gehen.
Werther ergab sich noch nicht, sondern bat nur, der Amtmann möchte durch die Finger sehn,
wenn man dem Menschen zur Flucht behülflich wäre! Auch damit wies ihn der Amtmann ab. Albert,
der sich endlich ins Gespräch mischte, trat auch auf des Alten Seite. Werther wurde überstimmt,
und mit einem entsetzlichen Leiden machte er sich auf den Weg, nachdem ihm der Amtmann
einigemal gesagt hatte: "nein, er ist nicht zu retten!"
Wie sehr ihm diese Worte aufgefallen sein müssen, sehn wir aus einem Zettelchen, das sich
unter seinen Papieren fand und das gewiß an dem nämlichen Tage geschrieben worden:
"Du bist nicht zu retten, Unglücklicher! Ich sehe wohl, daß wir nicht zu retten sind."
Was Albert zuletzt über die Sache des Gefangenen in Gegenwart des Amtmanns gesprochen,
war Werthern höchst zuwider gewesen: er glaubte einige Empfindlichkeit gegen sich darin bemerkt
zu haben, und wenn gleich bei mehrerem Nachdenken seinem Scharfsinne nicht entging, daß beide
Männer recht haben möchten, so war es ihm doch, als ob er seinem innersten Dasein entsagen müßte,
wenn er es gestehen, wenn er es zugeben sollte.
Ein Blättchen, das sich darauf bezieht, das vielleicht sein ganzes Verhältnis zu Albert ausdrückt,
finden wir unter seinen Papieren: "Was hilft es, daß ich mir's sage und wieder sage, er ist brav und
gut, aber es zerreißt mir mein inneres Eingeweide; ich kann nicht gerecht sein."
Weil es ein gelinder Abend war und das Wetter anfing, sich zum Tauen zu neigen, ging Lotte mit
Alberten zu Fuße zurück. Unterwegs sah sie sich hier und da um, eben als wenn sie Werthers
Begleitung vermißte. Albert fing von ihm an zu reden, er tadelte ihn, indem er ihm Gerechtigkeit
widerfahren ließ. Er berührte seine unglückliche Leidenschaft und wünschte, daß es möglich sein möchte,
ihn zu entfernen.--"Ich wünsch' es auch um unsertwillen," sagt' er, "und ich bitte dich," fuhr er fort,
"siehe zu, seinem Betragen gegen dich eine andere Richtung zu geben, seine öftern Besuche zu
vermindern. Die Leute werden aufmerksam, und ich weiß, daß man hier und da drüber gesprochen
hat."--Lotte schwieg, und Albert schien ihr Schweigen empfunden zu haben, wenigstens seit der
Zeit erwähnte er Werthers nicht mehr gegen sie, und wenn sie seiner erwähnte, ließ er das Gespräch
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fallen oder lenkte es woanders hin.
Der vergebliche Versuch, den Werther zur Rettung des Unglücklichen gemacht hatte, war das
letzte Auflodern der Flamme eines verlöschenden Lichtes; er versank nur desto tiefer in Schmerz
und Untätigkeit; besonders kam er fast außer sich, als er hörte, daß man ihn vielleicht gar zum Zeugen
gegen den Menschen, der sich nun aufs Leugnen legte, auffordern könnte.
Alles was ihm Unangenehmes jeweils in seinem wirksamen Leben begegnet war, der Verdruß bei
der Gesandtschaft, alles was ihm sonst mißlungen war, was ihn je gekränkt hatte, ging in seiner
Seele auf und nieder. Er fand sich durch alles dieses wie zur Untätigkeit berechtigt, er fand sich
abgeschnitten von aller Aussicht, unfähig, irgendeine Handhabe zu ergreifen, mit denen man die
Geschäfte des gemeinen Lebens anfaßt; und so rückte er endlich, ganz seiner wunderbaren
Empfindung, Denkart und einer endlosen Leidenschaft hingegeben, in dem ewigen Einerlei eines
traurigen Umgangs mit dem liebenswürdigen und geliebten Geschöpfe, dessen Ruhe er störte, in
seine Kräfte stürmend, sie ohne Zweck und Aussicht abarbeitend, immer einem traurigen Ende näher.
Von seiner Verworrenheit, Leidenschaft, von seinem rastlosen Treiben und Streben, von seiner [ Pobierz całość w formacie PDF ]

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